1969 - 2019 | 50 Jahre Tatra-Wagen in Leipzig
Noch 1967 von Fachleuten der LVB warnend erhobene Bedenken mit Hinweisen auf tiefgreifende Konsequenzen hinsichtlich Instandhaltung und Stromversorgung mussten aufgrund der „Staatsdisziplin“ unter Verweis auf übergeordnete RGW-Entscheidungen verstummen, zumal sich die Dresdner Verkehrsbetriebe als einzige bereits seit 1965 für den Import von Tatrawagen eingesetzt hatten. (*)
Diese Umschreibung charakterisiert die ablehnende Haltung der LVB zur Einführung der in der CSSR produzierten Straßenbahnwagen in den 1960er Jahren. Beim Ministerium für Verkehrswesen der DDR vorgebrachte begründete Einwände konnten den Abschluss langfristiger Lieferverträge nicht verhindern. Die LVB hatten den „Tatra“ zu akzeptieren. Bis 1990 blieben die ungeliebten Bahnen echte Problemfahrzeuge.
Heute gehören die letzten im täglichen Einsatz stehenden Tatratriebwagen, in ihrer modernisierten und mehrmals technisch verbesserten Form, zu den zuverlässigsten Leipziger Straßenbahnwagen der Gegenwart.
Nach fünfzig Betriebsjahren nähert sich der Abschied von der „Bauart Tatra“.
Quelle: (*) LVB GmbH: „Blaue Chronik“, 1996, Seite 364
Folien- und Plakatpräsentation
Vor 50 Jahren gingen in Leipzig die ersten Tatra-Straßenbahnen in den Liniendienst. Lange Zeit prägten sie den innerstädtischen Personennahverkehr. In den nächsten Jahren sollen sie aber ausrangiert werden. Was die wenigsten Fahrgäste wissen: Ursprünglich stammen die Bahnen aus Amerika.
Viele aus meiner Generation sind mit ihnen aufgewachsen. Und es gehören auch Erinnerungen dazu, die nicht so schön sind. Ob es die hohen Einstiege oder die teilweise unsteten Heizungen unter den Sitzen waren. Aber TATRA rollten und rollten ....
Auf den nächsten Folien einer Präsentation, die auzugsweise auch im Straßenbahnmuseum aushängt, wollen wir die Geschichte der Tatra-Wagen - und die speziell natürlich in unserer Heimatstadt Leipzig - beleuchten. Sie wurde von unserer Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit zu einem Vortrag für den Verein „Industriekultur Leipzig e. V.“ ertellt.
Meine erste Begegnung mit einem Tatra-Wagen
Kosmonaut werde ich nicht!
Von Gunnar Sattler
Dieser Aufsatz entstand anlässlich der Ausmusterung der letzten unmodernisierten Tatrafahrzeuge im Jahr 2006. Vorgestellt wurde er damals in unserer noch handkopierten und nur in kleinster Auflage erscheinenden Vereinszeitung. Zum Jubiläum „50 Jahre Tatra-Wagen“ können die Erinnerungen im vorliegenden Vereinsmagazin nunmehr einen deutlich gewachsenen Leserkreis erreichen.
„Wenn ihr groß seid, bleibt es nachts hell. Über den Städten leuchten künstliche Sonnen, die an großen Glaskuppeln hängen. Das Leben wird sehr angenehm. Auf den Fußwegen werden Rollbänder laufen. Große Wege werden mit Flugschraubern zurück gelegt die auf den Dächern der Hochhäuser landen. Viele von euch werden als Kosmonauten zu fernen Sternen fliegen. ...“
Ich weiß nicht mehr, ob mir diese Zukunftsvisionen in der Kindergartengruppe oder in der ersten Schulklasse vermittelt wurden. Was soll ich auf fernen Sternen? Kosmonaut will ich nicht werden. Zum Pioniernachmittag mussten wir eine Rakete zeichnen. Sie sollte drei Stufen haben. Ich gab mir große Mühe, zeichnete und malte meine Rakete farbig aus. Grün, gelb, blau - jede Stufe erhielt eine andere Farbe. Das war ein großer Fehler. „Raketen sind silbern und nicht bunt!“ kritisierte die Pionierleiterin. Was konnte ich dafür - mein Malkasten enthielt keine Silberfarbe. Und überhaupt - was interessierte mich eine Rakete? Ich will kein Kosmonaut werden.
Zum Kindertag gab es keinen Unterricht. Das ganze Schulhaus war mit Erlebnisstationen ausgestaltet, die alle Schulklassen der Unterstufe durchliefen. Hier wurde gesungen, dort waren Märchen zu hören und im Filmzimmer liefen 16-mm-Schmalfilme. Schließlich kamen wir zur Station „Junge Kosmonauten“. Sollte das wahr sein? Auf dem Schulgang waren Sportgeräte, sogenannte „Kästen“ hintereinander so aufgebaut, dass man darüber klettern, hindurchkriechen und springen musste. Ich bekam einen Motorradheim übergestülpt und war jetzt kein Jungpionier mehr, sondern ein siebenjähriger junger Kosmonaut. Es galt nun, in möglichst kurzer Zeit die Hindernisse tapfer zu überwinden. Gezwungenermaßen absolvierte ich meine Trainingseinheit. Endgültig war danach mein Entschluss: Niemals werde ich Kosmonaut.
Mein Interesse galt der Eisenbahn. Oft besuchte ich mit Schulfreunden den Leipziger Hauptbahnhof. Wie an kaum einem anderen Ort konnte man hier alle drei Traktionsarten hautnah erleben. Ich kannte längst alle wichtigen Baureihen, als mich ein Klassenkamerad ernsthaft nach dem Unterschied zwischen einer E-Lok und einer Diesellok fragte. Jetzt bemerkte ich, wie unterschiedlich die Interessen unter uns Schülern waren.
Und dann gab es die Straßenbahn, mit der ich schon in den Kindergarten gefahren war. Jetzt begleitete mich die Straßenbahn auf dem Schulweg ein ganzes Stück. Ob mein Interesse an der Straßenbahn zu dieser Zeit begann? Nein. Meine Zuneigung zur Straßenbahn war damals schon längst geweckt, worüber vielleicht in einem späteren Aufsatz berichtet wird. Natürlich kannte ich viele Straßenbahntypen. Die Straßenbahn-Chronik aus dem Jahr 1965 hatte ich unzählige Male gelesen und kannte manche Textstellen auswendig.
An Berufswünsche kann ich mich nicht erinnern. Sicher galt noch immer, dass ich kein Kosmonaut werden wollte. Doch hatte ich diese Abneigung inzwischen verdrängt. Die allgegenwärtige Propaganda für die sowjetische Raumfahrt und die Aussichten auf utopische Zukunftsvisionen waren Ende der 1960er Jahre verschwunden.
Nach dieser längeren Vorgeschichte komme ich zu jenem unvergesslichen Erlebnis - meiner ersten Begegnung mit einer Tatra-Straßenbahn. Das Datum habe ich mir nicht gemerkt. Es muss im Jahr 1969 gewesen sein. Ich war 12 Jahre alt. Natürlich gehörten Fahrten mit der Straßenbahn zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Zu jener Zeit war ich auch schon begeisterter Modelleisenbahner. Im neu ausgebauten Kaufhaus „Konsument am Brühl“ gab es anfänglich auch eine gut versorgte Abteilung für Modelleisenbahnen. So gehörten Straßenbahnfahrten zum Friedrich-Engels-Platz für einen Besuch der Modellbahnabteilung im neuen Kaufhaus stets zu den Höhepunkten meiner Freizeitgestaltung. Diese Fahrten durfte ich während der Ferien vormittags allein unternehmen. Wieder hatte ich vermutlich ein paar Schienen, etwas Streumehl oder einen Häuserbausatz erworben und wartete an der Haltestelle auf die Rückfahrt nach Gohlis.
Noch war keine Bahn der Linien 6 oder 7 zu sehen. Aber was kam da auf den Schienen angerollt? Große Aufregung bei mir! Und doch erkannte ich das Ungetüm sofort. Genau. hatte ich das Bild einer „Tatra-Straßenbahn“ aus der Straßenbahn-Chronik im Kopf. Also doch! Ganz neue Straßenbahnen seien jetzt im Einsatz, hatte ich gehört. Wie versteinert stand ich und schaute auf das Ungetüm. Es rauschte. Nach Gohlis fuhr die Bahn nicht. Egal! Meine Versteinerung wich dem starken Verlangen nach einer Mitfahrt. Eilig bestieg ich den Triebwagen und staunte noch mehr. Im Wageninnern rauschte es noch lauter. Es gab nur wenig Sitze. Der Innenraum besaß keine Plattformen und Zwischenwände. Alles erschien kahl, kühl und ungemütlich. Sollte ich die Inneneinrichtung gut finden? Doch! Das ist modern, formschön und wartungsarm, hatte ich gelesen. Und wirklich - im Vergleich zu anderen damals noch im Einsatz stehenden uralten Straßenbahntypen bestach der neue Wagen durch eine supermoderne Ausstrahlung. Ich bemerkte leuchtende Knöpfe, mit denen die Türen selbst zu öffnen waren. Darüber staunt ein Zwölfjähriger.
Jetzt klingelte es und über den Türen brannten apfelsinenfarbene Lampen. Das gab es auch bei anderen Straßenbahnen. Der Fahrer saß vor einer durchsichtigen Wand aus Kunstglas. Es gab eine gute Sicht auf die Straße und auf die Bedienelemente des Fahrers. Gleich würde die Fahrt beginnen.
Klack. Hopp. Erschrocken hielt ich mich an einer Stange fest. Die Bahn hatte sich mit einem weiten Sprung in Bewegung gesetzt! Ich nahm ein ungewöhnliches Fahrverhalten wahr. Die Bahn fuhr und bremste nicht so gleichmäßig wie ich es kannte. Vielmehr machte sie schnelle Sprünge und rollte dazwischen langsamer. Wie sieht denn der Fahrschalter aus? Aus dem Staunen kam ich nicht mehr heraus: Es gab keinen Fahrschalter. Der Fahrer hielt sich mit beiden Händen an einem Griff fest und fuhr die Bahn gar nicht selbst! Wir erreichten die Haltestelle Leibnizstraße. Der Wagen bremste kräftig, ohne dass der Fahrer erkennbar etwas dazu beigetragen hatte. Aufgeregt überlegte ich - war sie jetzt auch bei der Straßenbahn angebrochen, die neue moderne Zeit? Und erstmals erinnerte ich mich wieder an die vielversprechenden Zukunftsvisionen: Künstliche Sonnen, Rollbänder, Flugschrauber, Raketen ....
Konzentriert versuchte ich zu erforschen, wie die Bahn automatisch fährt und bremst. Es konnten nur Kontakte sein. An der Oberleitung war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Also waren Steuerkontakte (den Begriff „Sensoren“ kannte ich noch nicht) unter der Straßendecke angebracht. Diese Kontakte gaben der Bahn Signale über den Zustand der Straße. Ist die Straße frei, fährt die Bahn. Wenn Autos oder Fußgänger im Weg stehen, lassen die Kontakte die Bahn abbremsen. Und das funktioniert so einfach und sicher? Toll! Der Fahrer bediente nur selten kleine Schalter, deren Beschriftung ich nicht erkennen konnte. Jetzt beobachtete ich genau. Nach dem Schließen der Türen fuhr die Bahn wieder von selbst an. Die Hände des Fahrers lagen unbeweglich auf dem Griff. Es rauschte und klackte. Aha! Wenn es klackt, kommt aus der Straße ein Befehl zum Fahren oder Bremsen. In einigen Jahren wird der Fahrer ganz überflüssig sein und die Bahnen fahren ganz automatisch. Die Fahrgäste kommen über die Rollbänder aus den Flugschraubern unter den künstlichen Sonnen. Unsinn? Ja! Trotzdem - wie wird die Bahn gesteuert? Ich wusste es nicht.
Am Waldplatz stieg ich aus. Wahrscheinlich traute ich mich nicht zur Weiterfahrt in unbekannte Stadtteile. Vom Fußweg aus beobachtete ich die Weiterfahrt der Bahn. Sie bestand aus einem Triebwagen und einem gleichartigen Beiwagen. Die Steuerung der Bahn hatte ich bei dieser ersten Fahrt nicht ergründen können. Fasziniert war ich trotzdem. Sieht so der Fortschritt aus? Moderne Technik kommt also auch bei der Straßenbahn. Das bleibt interessant.
Denn klar ist schließlich: Kosmonaut werde ich nicht!
Zum Foto: Schon zur Frühjahrsmesse 1969 waren die neuen Bahnen auf der Linie „MM-grün“ zu sehen. Foto: J. Lipper | entnommen aus dem „Niederflurwagen“ #54